Ah, es ist gefühlt 100 Jahre her, dass ich zuletzt etwas geschrieben habe.
Vielen Dank für die coole Challenge, die mich ordentlich motiviert hat.
Vermutlich ist meine Geschichte auch deshalb ein klein wenig länger geraten ...
Es hätte viel schlimmer für Sie ausgehen können.
Seltsamerweise muss ich später oft an diesen Satz denken. Nicht an den Mann, von dem die Worte stammen. Ich erinnere mich kaum mehr an das Gesicht des Polizisten. Doch seine Worte kreisen viel zu oft in meinem Kopf, begleitet von der Frage: Warum ich?
Es hätte viel schlimmer für Sie ausgehen können.
Zweifellos.
Es hätte schlimmer für mich ausgehen können. Viel schlimmer. Allerdings kennt er nicht die ganze Geschichte und ich kann nur hoffen, dass das auch so bleibt.
Es beginnt mit einem Telefonat. Oder nein. Eigentlich beginnt es damit, dass ich ein Handy vor meiner Haustür finde und mich dazu entschließe, es aufzuheben.
Es ist ein brandneues Modell. Dasselbe, das sich auch meine Schwester vor Kurzem zugelegt hat. Im Vergleich dazu stammt mein eigenes Handy noch aus der Steinzeit. Fünf oder sechs Jahre alt, gibt es allmählich den Geist auf. Ich werde jedoch noch eine Weile damit auskommen müssen. Mobiltelefone sind teuer und zurzeit stehen wirklich andere Sachen oben auf meiner Prioritätenliste. Miete. Nahrungsmittel. Kleidung. All die schönen Dinge, die das Leben erst lebenswert machen.
Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Ich zucke zusammen, als das Handy in meiner Hand plötzlich zu vibrieren beginnt. Gleich darauf muss ich über meine eigene Schreckhaftigkeit lachen.
Ich werfe einen Blick auf das Display. Unbekannter Teilnehmer. Ich nehme trotzdem ab. Vielleicht weiß der Anrufer ja, wem das Handy gehört.
„Hallo?“
„Hallo.“ Die Stimme eines Mannes.
„Ähm, bitte wundern Sie sich nicht. Ich habe das Handy vor meiner Tür gefunden“, erkläre ich beinahe abwehrend. Aus irgendeinem Grund habe ich das Bedürfnis, so unschuldig wie möglich zu klingen.
Das scheint den Mann am anderen Ende zu amüsieren. Ich kann sein Lächeln praktisch hören. „Ich weiß. Ich habe es dort platziert.“
Ich blinzle. Was? „Was?“
„Das Handy. Ich habe es vor Ihre Tür gelegt.“
Ich blinzle erneut und komme nicht gegen den Impuls an, mich nach allen Seiten umzusehen. Eine Frau mit einem Kinderwagen. Ein paar Radfahrer, die trotz der eisigen Temperaturen und dem angekündigten Schneefall nicht auf ihre Sonntagstour verzichten wollen. Und dort auf der anderen Straßenseite ein Mann, der ein Mobiltelefon in der Hand hält. Ich mache einen halben Schritt auf ihn zu. Der Mann lacht auf. Am anderen Ende meiner Verbindung bleibt es gespenstisch still.
Ich wende mich ab. Vielleicht ist mein Anrufer gar nicht in der Nähe.
„Warum?“, frage ich mit einiger Verspätung.
„Sie sollen etwas für mich tun.“
„Was? Warum?“
„Weil ich weiß, wo Ihre Schwester wohnt.“
Unwillkürlich verdunkelt sich mein Blick. „Was soll das denn heißen?“, verlange ich zu wissen.
„Ihre Schwester und Ihre Nichte. Sie selbst haben ja keine Kinder“, fährt der Anrufer im Plauderton fort. „Warum eigentlich nicht?“
„Darüber rede ich mit Ihnen nicht.“
„Verständlich. Wir kennen uns ja kaum.“
„Haben Sie gerade meine Familie bedroht?“, zische ich in den Hörer.
„Wie kommen Sie denn darauf? Ich sagte nur, ich wüsste, wo die beiden wohnen. Für das, was wir beide vorhaben, ist es wichtig, dass Sie mir richtig zuhören.“
Ich jage den Mann zum Teufel und lege auf. Einen Moment lang versuche ich noch, mich davon zu überzeugen, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Dann siegt das nagende Gefühl in meinem Bauch und ich krame mein eigenes Handy aus der Jackentasche.
Während meines Telefonats habe ich eine WhatsApp Nachricht von einer unbekannten Nummer erhalten. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl und es braucht einige Sekunden, bis ich mich dazu durchzuringen kann, die Mitteilung zu öffnen.
Meine Organe ziehen sich schlagartig zu einem festen Knoten zusammen. Es ist ein Foto. Und es zeigt das Schlafzimmer meiner Schwester. Genauer gesagt, zeigt es eine behandschuhte Hand und ein Messer, das über ihrer schlafenden Silhouette schwebt.
So etwas passiert nicht. Nicht stinknormalen Leuten wie mir. Das muss ein schlechter Scherz sein. Ich kann unmöglich an einen echten Psychopathen geraten sein.
Ich hoffe auf ersteres, doch glaube an letzteres.
Hastig wechsle ich zum Telefonbuch und wähle die Nummer meiner Schwester. Einen Moment später zucke ich erneut zusammen, als das Mobiltelefon in meiner anderen Hand zu vibrieren beginnt. Ich will den Anrufer gerade wegdrücken, als meine Augen das Display streifen. Nein. Unmöglich.
Das ist mein Name im Display. Der eingehende Anruf kommt von mir.
Ich halte das Handy meiner Schwester in der Hand. Ohne die alberne Hülle mit den kitschigen Eulen ist mir das nicht aufgefallen.
In Gedanken klammere ich mich noch immer an die absurde Hoffnung, dass es sich um einen geschmacklosen Scherz handeln könnte. In Wahrheit weiß ich es besser. Meine Schwester ist nicht der Typ für solche Streiche.
Ich lege auf und mein Name verschwindet aus dem Display. Wie in Trance schiebe ich mein eigenes Handy zurück in meine Jackentasche. Die Angst ist so groß, sie hat die Wut einfach weggefegt. Wird er meiner Schwester etwas antun, weil ich aufgelegt habe? Unzählige Entführungsfilme schießen mir durch den Kopf. Szenen, in denen abgetrennte Gliedmaßen an Familienangehörige verschickt wurden.
Oh, Gott.
Soll ich die Polizei rufen?
Wird er sie dann umbringen?
Ist meine Nichte auch bei ihm? Sie ist erst neun und hat noch kein eigenes Mobiltelefon. Wie kann ich sie erreichen, mich vergewissern, dass es ihr gut geht?
Das Handy meiner Schwester vibriert. Unbekannter Teilnehmer. Das Timing kann kein Zufall sein. Er muss mich beobachten.
Ich zwinge mich, den Anruf entgegenzunehmen. Das flaue Gefühl in meinem Magen ist Übelkeit erregend.
„Sie sehen blass aus“, sagt der Mann und bestätigt damit meinen Verdacht. Er ist irgendwo ganz in der Nähe.
„Tun Sie ihr nichts.“
„Ich mache es kurz und schmerzlos“, verspricht der Anrufer. „Gehen Sie zum Rathausplatz. Und schalten Sie Ihr Handy aus, bitte.“
Kurz und schmerzlos ist in diesem Moment keine Formulierung, die hilft mich zu beruhigen.
Ich möchte auflegen und die Polizei alarmieren. Ich möchte losrennen und sehen, ob es meiner Schwester und meiner Nichte gut geht, doch ich habe zu große Angst vor den Konsequenzen. Ich blicke mich erneut um. Diesmal behalte ich die Fenster der umliegenden Häuser im Auge. Er sitzt dort in einem der Gebäude. Ich bin mir sicher.
Mir bleibt keine Wahl. Ich schalte mein Handy aus und gehe los.
Ich überquere eine Kreuzung, ein paar Querstraßen und werde fast von einem Auto erfasst. Es ist meine Schuld, trotzdem zeige ich dem Fahrer, der meine Unachtsamkeit mit wildem Hupen kommentiert, den Finger.
Der unbekannte Anrufer schnalzt missbilligend mit der Zunge. Mit Sicherheit käme es für ihn ungelegen, wenn ich jetzt überfahren würde.
Noch ein paar hundert Meter und ich sehe das alte Rathaus hinter den übrigen Häusern aufragen.
„Fast da“, sage ich ein wenig außer Atem.
„Gehen Sie Richtung Parkplatz. Zu den Glascontainern.“
Ich tue, was er verlangt.
Müll, zerbrochene Flaschen, Graffitis und aussortierte Kleidung säumen die Betonmauer, die die Container in Form eines offenen Quadrats umschließt. Ein Sichtschutz der hässlichen Sorte. Über den stechenden Geruch will ich gar nicht erst nachdenken.
„Neben dem Braunglascontainer liegt ein Kleiderhaufen. Darunter sollte sich eine Reisetasche befinden.“
Ich schiebe das Bündel verschmutzter Kleidung mit dem Fuß zur Seite. Tatsächlich. Eine dunkle Reisetasche kommt zum Vorschein. Ich nehme sie an mich und trete zurück auf den Bürgersteig. Das Gewicht der Tasche in meiner Hand wirkt seltsam beruhigend. Sie gibt mir das Gefühl, dass der Anrufer nicht länger alle Trümpfe in der Hand hat. Jetzt habe ich etwas, das er will.
„Gehen Sie in Fahrtrichtung die Straße entlang bis Sie an eine Hecke aus Kirschlorbeer kommen. Das ist die mit den breiten Blättern. Sehen aus wie Lorbeerblätter.“
„Ich weiß, wie Kirschlorbeer aussieht!“, murmle ich gereizter als beabsichtigt.
„Gut für Sie. Ich musste es googeln.“
Unter anderen Umständen hätte mir dieser Kommentar vielleicht sogar ein Lächeln abgerungen. Gerade jetzt ist mir nicht nach Lachen zumute.
Ich marschiere weiter, die anliegenden Grundstücke im Auge behaltend. Nur ein paar Schritte lang konzentriere ich mich ausschließlich auf die Gebäude zu meiner Rechten, bevor meine Augen anfangen, zwischen den Straßenseiten hin und her zu schnellen.
Wie weit ist es noch?
Ist das überhaupt die richtige Straßenseite?
Bin ich schon daran vorbeigelaufen?
Ich werfe einen raschen Blick über die Schulter. Ein Pärchen schlendert den Gehweg hinter mir entlang. Für einen Moment richtet sich all mein hilfloser Zorn allein gegen sie. Ich nehme es ihnen übel, dass sie so zufrieden aussehen, dass sich ihre Welt in den gewohnten Bahnen dreht, während mich ein einziger Anruf aus der Erdumlaufbahn katapultiert hat.
„Ich sage Ihnen jetzt, was Sie als nächstes tun müssen.“ Die Stimme aus dem Handy klingt nachdrücklicher als zuvor. „Hören Sie mir gut zu.“
Ich nicke, obwohl der Anrufer die Geste nicht sehen kann. Vermutlich.
„Sobald Sie die Hecke erreichen, werfen Sie die Tasche auf das benachbarte Grundstück. Dann laufen Sie. Einfach geradeaus, ganz gleich wohin. Das war es schon. Kurz und schmerzlos.“
Ich umklammere die Tasche instinktiv fester. „Was ist mit meiner Schwester?“
„Es geht ihr gut.“
„Ich will mit ihr sprechen. Bitte.“
„Tun Sie einfach, was ich sage!“ Es ist das erste Mal, dass der Mann seine Stimme hebt. Der Gedanke, dass er vielleicht nicht ganz so besonnen ist, wie es bisher den Anschein machte, erstickt den rebellischen Funken, den der Besitz der Tasche in mir entfacht hat. Jetzt geht es nur darum, dass meiner Schwester nichts geschieht.
„Okay. Alles in Ordnung“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.
Das Schweigen des Anrufers dröhnt mir in den Ohren. Ich weiß nicht, wie ich die Stille interpretieren soll und gehe schneller.
Als ich mein Ziel erreiche, zögere ich nicht. So fest ich kann, schleudere ich die Tasche über die Hecke und renne los.
Ich komme nicht weit.
Bereits nach wenigen hundert Metern werde ich brutal zu Boden gerissen und mit dem Gesicht voran auf den kalten Asphalt gedrückt.
Ich versuche mich zu wehren. Schlage, schreie, trete um mich. Bis ich feststelle, dass sich kein mordlustiger Psychopath auf mich gestürzt hat, sondern zwei Polizisten. Augenblicklich erlischt meine Gegenwehr und ich spüre nichts als Erleichterung. Vielleicht schießen mir sogar ein paar Tränen in die Augen. Ein Detail, das ich bei künftigen Erzählungen für mich behalten werde.
Es geht ihr gut. Es geht mir gut. Es geht uns gut.
Während mich der Anrufer durch die Stadt gejagt hat, ist ein weiteres Foto auf meinem Handy angekommen. Auf diesem wird meine schlafende Nichte bedroht. Es ist grauenhaft, doch ein Teil von mir ist dankbar, dass es diese Fotos gibt. Sie sind der einzige Beweis dafür, dass ich mir diese verrückte Geschichte nicht bloß ausgedacht habe und bestimmt der einzige Grund, aus dem die Polizei umgehend einwilligt, nach meiner Schwester zu sehen.
Die beiden waren ziemlich überrascht, als plötzlich ein halbes Dutzend Polizisten vor ihrer Tür stand. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass überhaupt jemand im Haus gewesen war.
Ich werde verhört. Wieder und wieder muss ich die Ereignisse des Tages zusammenfassen. Ein Beamter fragt mich, wo es ist. Ich habe keine Ahnung, was er meint. Er will wissen, was mit der echten Tasche passiert ist. Auch dabei kann ich ihm nicht helfen. Ich weiß nichts. Nur so viel kann ich mir selbst zusammenreimen: Jemand wartete hinter der Hecke, tauschte die Reisetasche gegen ein identisches Modell und verschwand. Auf diese Weise bemerkte die Polizei erst Stunden später, dass sie ausgetrickst worden war.
Mehr werde ich nicht erfahren.
Am Ende kann mir niemand eine Komplizenschaft nachweisen. Wie auch? Ich weiß bis heute nicht, warum der Anrufer ausgerechnet mich ausgewählt hat. Nicht einmal von einem Verbrechen unter Nötigung kann man sprechen. Ich habe bloß eine Tasche gefunden und sie über eine Kirschlorbeerhecke geworfen.
Fünfundzwanzig Stunden später darf ich gehen.
In den Augen der meisten Beamten bleibe ich vermutlich ein Verdächtiger. Nur einer von ihnen, das Urgestein in der ansonsten jungen Truppe, scheint meine Geschichte zu glauben. Er beugt sich an seinem Schreibtisch vor und sieht mich fest an. „Es hätte viel schlimmer für Sie ausgehen können.“
Er sagt das nicht nur so dahin. Es ist auch keine Sache der Wahrscheinlichkeit in Anbetracht der Umstände. Seine Worte tragen eine Gewissheit in sich, die mich erschreckt. Er weiß, dass ich Glück hatte, weil es Leute gibt, denen es anders erging. Es klingt, als wäre ich Jack The Ripper noch einmal von der Schippe gesprungen.
Der Gedanke hilft kaum, mich zu beruhigen.
Auf den Tag genau ein halbes Jahr später erhalte ich ein Päckchen. Es gibt keinen Absender. Nur einen gedruckten Aufkleber mit meiner Adresse.
Vor dieser Sache mit dem Anrufer hätte ich mir nichts weiter dabei gedacht. Jetzt starre ich das Paket an und überlege, es ungeöffnet in den Müll zu werfen.
Am Ende siegt die Neugierde. Ich zertrenne das Klebeband mit einem Küchenmesser und öffne den Karton. Meine Augen weiten sich.
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Zwei, drei, fünf Sekunden lang weiß ich nicht, wie ich reagieren, was ich denken soll. Dann lächle ich. Nur ein bisschen.
Kurz und schmerzlos, denke ich, denn wirklich …
Es hätte viel schlimmer für mich ausgehen können.